Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine
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Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine

20,00 €
Bruttopreis
Raúl Sánchez Cedillo
transversal texts, Februar 2023
ISBN 978-3-903046-36-8
397 Seiten, broschiert, € 20,00

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Ein weltweites Kriegsregime droht - Der spanische Philosoph und Aktivist Raúl Sánchez Cedillo plädiert in seinem Buch „Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine“ für einen konstituierenden Frieden und fürchtet einen autoritären Kapitalismus.

medico: In deinem Buch „Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine“, das gerade in Spanien erschienen ist, unternimmst du den Versuch einer europäischen Annäherung an den Krieg in der Ukraine ausgehend von einer europäischen Gegenöffentlichkeit. Woher rühren deine politischen Beziehungen zu den postsowjetischen Ereignissen, die du so detailliert in deinem Buch schilderst?

Raúl Sánchez Cedillo: Ich bin seit den 1990er Jahren politisch aktiv. Europäische Politik habe ich immer für zentral gehalten, um eine emanzipatorische Politik zu entwickeln und war an vielen Bewegungen beteiligt, die sich zugleich als Bestandteil der globalisierungskritischen Bewegung sahen, in der wir einen europäischen Zweig bildeten. Für fortschrittliche Bewegungen, auch die der Migrant:innen, schien uns ein gemeinsamer politischer Raum, wie er zum Beispiel durch eine europäische Verfassung hätte entstehen können, viel interessanter als die aufgesplitterte politische Landschaft, wie wir sie heute vorfinden.

Im Zusammenhang mit den großen kommunalen Bewegungen wie den Indignados in Spanien haben wir zum Beispiel die „Universidad Nómada“ (die nomadische Universität) geschaffen. Wir wollten damals "Monsterinstitutionen" kreieren, die eine Brücke zwischen Politik und Kunst schlagen sollten – außerhalb der Kulturindustrie und doch innerhalb der Institutionen. Dabei haben wir sehr eng mit osteuropäischen Künstlerkollektiven zusammen gearbeitet. Zum Beispiel mit „chto Delat“ – eine bis heute arbeitende Gruppe aus Sankt Petersburg – genauso wie mit kleinen Gruppen in der Ukraine und in Polen. Daraus entstand eine Konferenz, die wir gemeinsam mit dem Reina Sofia Museum 2014 organisierten: „Die neue Entführung Europas – Schulden, Krieg, demokratische Revolutionen“.

Sie fand zufälligerweise zur gleichen Zeit wie der Euromaidan in der Ukraine und die russische Invasion der Krim statt. Wir luden damals die Aktivist:innen ein, von denen sich heute viele für den Kriegseinsatz aussprechen und selbst Teil der Armee oder von Milizen sind. All diese Gruppen sehen sich in einem gemeinsamen Kampf mit der NATO. Europa als umkämpfter Raum, in dem unabhängige politische und künstlerische Kollektive aus Osteuropa gemeinsam mit antikapitalistischen westlichen Kollektiven interagieren und ihre Kämpfe zusammenführen, ist als gemeinsame Idee durch den Ukraine-Krieg erst einmal auf Eis gelegt. Schon damals waren die Aussichten nicht besonders gut. Viele ukrainische Linke kritisierten uns, weil wir der Meinung waren, dass ein Krieg mit Russland unbedingt vermieden werden müsse, auch wenn die Besatzung der Krim absolut nicht akzeptabel war. Unter ihnen gab es zudem unterschiedliche Einschätzungen über den Maidan und die Rolle der rechten Kräfte.

Im Grunde nahm die politische Entwicklung in der Ukraine vorweg, was überall in Europa passieren sollte: eine Renationalisierung der Politik. Die Idee eines gemeinsamen Europas, geprägt von den west- und osteuropäischen Erfahrungen, das soziale Bewegungen und gemeinsame Kämpfe gegen die Prekarität der Arbeit, für Bewegungsfreiheit und für ein gemeinsames föderatives Wohlfahrtssystem mitgestalten, löste sich in Luft auf. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass die Pandemie zudem die schlimmsten politischen Leidenschaften geweckt hat. Verschwörungstheorien und Vorurteile haben sich rasend verbreitet. Auch das hatte einen Effekt auf alle Akteur:innen.

Du kritisierst die ukrainische Linke, die deutlich den Krieg und die Nato-Unterstützung befürwortet. Warum?

Mir fällt es schwer zu verstehen – ohne das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung in Frage zu stellen – dass der Militarismus, das offene Bekennen zur ukrainischen Armee, in der kleinen ukrainischen Linken eine solche Rolle spielt. Sie machen sich zum Teil einer Nato-Intervention in der Ukraine, die nicht nur die militärische Ausrüstung stellt, sondern auch direkt militärische Informationen liefert und militärische Operationen mit steuert.

Für mich besteht ein Unterschied in der legitimen Selbstverteidigung gegen die Invasion und einem Militarismus in der Sprache und in den Handlungen, der verlangt, dass man sich auf die Seite der NATO stellt. Die Hoffnung vieler Linker, dass man gemeinsam mit der NATO Putin aus dem Amt verjagen könne, dem eine sozialistische Revolution folgen werde, und man bei dieser Gelegenheit auch noch die ukrainische Oligarchie vertreibe, erstaunt mich. Die Neoliberalisierung und die Deregulierung der Ukraine ist seit dem Maidan ein fortlaufender Prozess. Nichts spricht dafür, dass der durch den Krieg gestoppt wird. Um die sozialen und politischen Rechte in der Ukraine ist es doch seither ziemlich schlecht gestellt.

Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze schrieb kürzlich, die EU und die NATO verlangten mitten im Krieg von der Ukraine eine solche Deregulierungspolitik, dass man schon von einem „Krieg ohne Staat“ sprechen müsse …

Das sagt er jetzt. Am Anfang war er auch der Meinung wie viele, dass dieser Krieg dazu diene, ein integriertes Europa von oben zu bauen. Jetzt wird aber immer klarer, dass genau das nicht kommen wird.

Ist nicht nachvollziehbar, dass die ukrainische Linke die Hoffnung hat, mit diesem Krieg endlich aus der postsowjetischen Bedingung, aus der imperialen und stalinistischen Geschichte austreten zu können, die, wie der Krieg beweist, in einer endlosen Wiederholungsschleife zu bestehen scheint?

Ja, natürlich. Die Ukraine hat über die ganze Moderne hinweg eine tragische Geschichte. Immer dann, wenn es um ihre Unabhängigkeit ging, war dies tragisch. Im Bürgerkrieg nach dem ersten Weltkrieg kämpften fünf verschiedene Armeen um die Unabhängigkeit und bekämpften sich zugleich gegenseitig. Es gab zwei verschiedene Republiken. Alle gegründet und erkämpft von Ukrainer:innen.

Die Ukraine ist ein Grenzland zu vielen Ländern und Regionen. Hier liegt eine lange Geschichte von Bevölkerungsaustausch und Deportationen vor, die tiefe Spuren hinterlassen hat. Die Idee, gerade hier einen homogenen Nationalstaat schaffen zu wollen, halte ich für einen Irrweg. Die beste Zeit hatte die Ukraine in der Chruschtschow-Periode. Sowohl Chruschtschow wie Trotzki waren aus der Ukraine. Die Rolle der ukrainischen Kommunisten, darunter viele Juden, ist fundamental bei der Entstehung der Sowjetunion. Man sollte nicht vergessen, dass Putin in seiner Rede vor der Invasion die sowjetische Zeit für das Entstehen einer unabhängigen Ukraine verantwortlich gemacht hat, weil gerade zu Beginn der 1920er Jahre das linguistische Problem auf eine kluge Weise gelöst wurde. Damals wurde die ukrainische Sprache gefördert und anerkannt. Auch Taras Schewtschenko zählte zum Literaturkanon als Dichter der ukrainischen Sprache und Tradition.

Nach dem Ende der Sowjetunion erlebten alle Arten von Nationalismen, der imperiale, vorurteilsgeladene, panrussische Nationalismus, aber auch der bis dahin unterdrückte ukrainische Nationalismus von Petljura und danach Bandera, bei dem Antisemitismus eine Rolle spielt, ein Revival. Der Antisemitismus spielt im ukrainischen, russischen und polnischen Nationalismus eine Schlüsselrolle. Das darf man nicht vergessen.

Gerade findet eine Art Rekomposition dieses Nationalismus im realen politischen Raum statt. Selensky, ein russischsprachiger, ukrainischer Jude mit herausragender Medienkompetenz, ist ganz wesentlich an der Neugründung eines Nationalismus beteiligt, der verkündet, dass jetzt eine ukrainische Nation entsteht, die sich vom russischen Einfluss befreit und den Westen umarmt. Das ist angesichts der linguistischen, historischen und kulturellen Geschichte der Ukraine einfach nicht möglich. Oder wenn, dann gelingt das nur durch einen sehr schrecklichen Krieg, in dem ethnische Säuberungen und die Unterdrückung von Minderheiten stattfinden. Dieser Krieg zur Nationenbildung der Ukraine wird niemals enden. Die Frustrationen der russischsprachigen Bevölkerung werden zunehmen. Man kann mit einem solchen aggressiven Nationalismus keinen Staat bauen. Was die Ukraine anbetrifft, ist Krieg unter keinen Umständen eine Lösung.

In der gesamten Rhetorik um den Ukraine-Krieg spielt der Topos des „gerechten Krieges“ eine zentrale Rolle. Kann man das angesichts des Rechts auf Selbstverteidigung gegen einen Aggressor bestreiten?

Ich kritisiere den Begriff „gerechter Krieg“ und halte ihn generell für einen schwierigen Begriff. Damit wurden die Kreuzzüge oder die Kriege gegen das Osmanische Reich gerechtfertigt. Er hat zuallererst eine theologische Grundlage. Ein „gerechter Krieg“ wird im Namen Gottes geführt. Die ganze Menschenrechtsdoktrin belebte ihn dann auf säkularer Basis wieder, zum Beispiel im Jugoslawien-Krieg oder in den Krisen Afrikas. Hier werden Kriege nicht im Namen Gottes, sondern im Namen der Menschenrechte geführt. Das ist eine Form von westlicher Heuchelei aus den 1990er Jahren. Das muss man kritisieren. Und selbst Lenin sprach von „gerechten Kriegen“. Bei ihm geschah das im Namen des Proletariats. Er behauptete, ihn im Namen von unterdrückten Völkern und Klassen zu führen und verteidigte damit den Bürgerkrieg. Das ist harte Leninsche Doktrin. Ich kritisiere generell die Verwendung dieses Begriffs. Es gibt keine klar abgrenzbaren nationalen Kriege und Befreiungskonflikte mehr. Immer sind darin Imperien, militärische Systeme und Bündnisse involviert, die diese Konflikte benutzen, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Man kann das nicht mehr voneinander trennen.

Was also bedeutet dieser Diskurs über den „gerechten Krieg“ oder die Völkerrechtsverletzung? Das ist apologetische Propaganda. Denn es gibt keine reale internationale Struktur, die internationales Recht über die Parteien hinweg durchsetzen kann. Ich berufe mich in meinem Buch auf den Rechtswissenschaftler Hans Kelsen, der sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine internationale Polizeikraft vorstellte, die nur dazu da sein sollte, Krieg auf jeden Fall zu unterbinden. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg und angesichts der Atomkriegsgefahr könne der Krieg nicht mehr als Fortsetzung der Politik gedacht und geführt werden. Kelsen stellte sich eine Art Weltsouverän vor, der den Auftrag hätte, Kriege oder eine Klimakatastrophe zu verhindern und dem sich alle regionalen Mächte unterzuordnen hätten. Die Weltordnung, die in Jalta gegründet wurde, hat die Verwirklichung dieser Idee verhindert. Deshalb kann es keinen gerechten Krieg geben.

Hier findet ihr des komplette Interview mit Raul Cedillo auf der Medico Seite.

Raúl Sánchez Cedillo ist spanischer Philosoph und hat sich seit Ende der 1990er-Jahre als politischer Aktivist für eine Neugründung Europas durch einen konstituierenden Prozess eingesetzt. Über die Fundación de los Comunes und die Universidad Nómada hatte er engen Kontakt zu unabhängigen künstlerischen und politischen Initiativen aus der Ukraine in der Zeit des Euromaidan 2014, dem Aufstand gegen die Janukowitsch-Regierung.